I’m trying to open a door not to the unconscious world but to a more obvious, factual world that’s surprising nonetheless because it actually exists and is hidden in plain sight.
Info

Geboren 1969 in Mexiko-Stadt, Mexiko
Lebt und arbeitet in New York, USA

Interview

Interview mit Mauricio Alejo

KATRIN STEFFEN: Deine Videos sind kurze, überraschende Geschichten, die in der Alltagswelt spielen. Welche konkreten Situationen wecken dein Interesse?

MAURICIO ALEJO: Das ist schwierig zu sagen. Was mich interessiert, sind kleine Zufälle, die aus irgendwelchen Gründen das Potenzial haben, über sich selbst als reine physikalische Phänomene hinauszuwachsen. Nicht, dass ich etwas gegen physikalische Phänomene hätte; ich mag Physik, aber mich interessieren jene Situationen, deren Kraft, Spannung, Fortgang und prekäres Gleichgewicht die Fähigkeit besitzen, mit der Erinnerung, der Wahrnehmung und dem physischen Erleben der Welt beim Betrachter etwas auszulösen.

KS: In den kurzen Sequenzen sind die Dinge nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. In Line (Linie, 2002) beispielsweise wird die vermeintliche Linie durch eine minimale Intervention deinerseits als Wasserstrahl entlarvt. Es scheint, als führtest du pseudowissenschaftliche Experimente mit unterschiedlichen Materialien und Texturen durch. Ein Erkenntnisgewinn durch unmittelbare Erfahrungen, die du ans Publikum weitervermittelst? Welche Bedeutung hat dabei die optische Illusion?

MA: Du hast Recht, in diesen Videos dreht sich fast alle um die optische Täuschung, aber ich finde auch die verbale Komponente wichtig. Der Titel beschreibt nicht nur, sondern gibt vor, was man sehen soll. Deshalb haben selbst diese spezifischen Videos Titel, die eigentlich zu kurz sind, um Überflüssiges zu enthalten. Das Verbale besitzt eine Struktur und eine Autorität, die dem Visuellen fehlt. An einer bestimmten Stelle der Handlung kommt es zu einem Bruch vom Verbalen zum Visuellen; er macht den Betrachter durchlässig und bereitet ihn darauf vor, sich weniger voreingenommen auf die Materialien einzulassen. Sobald das geschieht, wird die Erfahrung ganz grundlegend, und das gefällt mir. Nehmen wir als Beispiel das Video Line. Du siehst den Titel «Linie», und dann siehst du das Bild einer Linie, aber sobald die Aktion beginnt, stehst du vor einem Strich, der eher eine Sache als ein Konzept ist. Die Linie besteht aus einem konkreten Material, in diesem Fall aus Wasser, aber ich glaube, den Schock für unsere Wahrnehmung löst etwas Grundlegenderes aus, das mit Phänomenologie zu tun hat: die plötzliche Erfahrung von der Bewegung im Stillstand.

KS: Du hast ein einzigartiges Universum aus alltäglichen Situationen und Objekten geschaffen, sodass das Banale eine poetische Note bekommt. Könnte man sagen, dass surrealer Humor und Erfindungsgeist dabei eine wichtige Rolle spielen?

MA: Das ist komisch, denn ich versuche ganz bewusst, nicht witzig zu sein, aber gleichzeitig weiss ich, dass ich es bin. Ich glaube, was passiert, ist, dass ich einige Ingredienzien mische und Mechanismen einsetze, die auch beim Humor zum Einsatz gelangen, beispielsweise die Unterbrechung einer Geschichte durch ein unerwartetes Ereignis. Auch wenn der Fortgang absurd ist, reizt die Unterbrechung des kontinuierlichen Geschehens zum Lachen. Mir gefällt dieser psychologische Aspekt in meiner Arbeit. Ich glaube, dass der plötzliche Bruch die verborgenen Geschichten zutage fördert, die den Alltagsobjekten innewohnen. Was ich als subversiv empfinde, ist der narrative Dreh, der sich häufig unserer Wahrnehmung entzieht.

Was den surrealen Teil anbetrifft, muss ich wohl, wenn auch zähneknirschend, akzeptieren, dass meine Arbeit etwas Surreales an sich hat, vielleicht «à la Magritte» so wie in Ceci n’est pas une pipe, was mir gut gefällt (im Gegensatz zu «à la Dalí», was mir weniger gefällt, das erscheint mir zu spektakulär). Auf alle Fälle versuche ich nicht eine Tür zur Welt des Unbewussten aufzustossen, sondern vielmehr zu einer offensichtlichen und faktischen Welt, die trotzdem zu überraschen vermag, weil sie tatsächlich existiert, aber trotz ihrer augenscheinlichen Präsenz weitgehend unerkannt bleiben.

KS: Du beschäftigst dich in deiner Arbeit vor allem mit dem Medium der Fotografie und seit den frühen 2000er-Jahren auch mit dem des Videofilms. Zu deinen ersten Videoaufnahmen zählen die Arbeiten Crack (Riss), Line (Linie), Twig (Zweig), Red (Rot) und Hole (Loch). Zeit, Bewegung und Handlung haben durch das neue Medium eine andere Qualität und Relevanz gewonnen. Wie kam es zu diesem Wechsel, und welche Möglichkeiten hat er eröffnet?

MA: Ich kam aus reiner Notwendigkeit zum Video. Ich hatte keinen konkreten Plan für die Arbeit mit dem Video; für das, was ich ausdrücken wollte, bedurfte es einfach der Bewegung; deshalb könnte man manche meiner Videos auch als Fotos verstehen, in denen etwas passiert. Ich habe mich bemüht, das Medium so effizient wie möglich zu nutzen, zum einen, weil ich damit keine Erfahrung hatte, aber auch, weil ich eine ganz klare Aussage machen wollte. Aus der Verbindung dieser beiden Faktoren kamen einige elegante Miniaturen zustande. Ausserdem half mir die Tatsache, dass ich ausgerechnet mit dem Element arbeitete, das der Fotografie fehlt – nämlich mit der Zeit –, das Wesen der beiden Medien auf umfassendere Weise zu verstehen. Bei der Fotografie habe ich seitdem ein besseres Verständnis dafür, wie die Zeit in der fotografischen Darstellung funktioniert.

KS: Wie siehst du aus heutiger Perspektive die Videos im Kontext deiner künstlerischen Arbeit?

MA: Das ist eine schwierige Frage, weil sich die Vorstellung, die ich von meinen früheren Arbeiten habe, dauernd verändert. Ich denke, dass sie mir gefallen, so wie sie jedem anderen auch gefallen könnten. Ich kann mir diese Videos immer noch ansehen, was schon als Gewinn gelten kann. Es kommt sehr selten vor, aber wenn es so ist, bedeutet das, dass die Werk genügend offen formuliert sind, um bedeutsam zu bleiben. Für mich als Künstler eröffneten diese Werke zweifellos eine bestimmte Arbeitsweise. Sie lehrten mich, meiner Intuition während des gesamten Arbeitsprozesses so treu wie möglich zu bleiben, vom Augenblick an, in dem ich ein Ereignis konzipiere, bis zum Moment, in dem ich es im adäquaten Medium umsetze.

Interview per E-Mail, Juli 2014

Daros Ausstellungen
Bibliographie
Ausgewählte Titel in unserer Bibliothek

Colección Daros Latinamerica. Fundación Proa, Buenos Aires, Argentina. July - September 2015. With texts by Rodrigo Alonso, Katrin Steffen, Hans-Michael Herzog (et. al.). Buenos Aires, Fundación Proa, 2015.

Dark Mirror. Art from Latinamerica since 1968. Works from the Daros Latinamerica Collection. Exhibition catalogue, Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg, Germany, September 26, 2015 - January 31, 2016. Edited by Ralf Beil and Holger Broeker. Wolfsburg, Kunstmuseum Wolfsburg, 2015.

Dark Mirror. Lateinamerikanische Kunst seit 1968. Werke aus der Daros Latinamerica Collection. Exhibition catalogue, Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg, Germany, September 26, 2015 - January 31, 2016. Edited by Ralf Beil and Holger Broeker. Wolfsburg, Kunstmuseum Wolfsburg, 2015.

Schirinian, Victoria. Esto no es Latinoamérica. Colección Daros. In: Barzón. Explorando el mundo contemporáneo, September 2015, pp. 82-91. Buenos Aires, Revista Barzón, 2015.

MUAC. 2008-2015. Collection catalogue. With texts by Olivier Debroise, Graciela de la Torre, and Cuauhtémoc Medina. Mexico City, Museo Universitário Arte Contemporáneo MUAC, 2015.

Illusions. Exhibition catalogue, Casa Daros, Rio de Janeiro, Brazil, September 9, 2014 - February 13, 2015. With texts by Orlando Britto Jinorio and interviews by Katrin Steffen. Rio de Janeiro, Casa Daros, 2014. (www.illusions.casadaros.net)

Ilusiones. Exhibition catalogue, Casa Daros, Rio de Janeiro, Brazil, September 9, 2014 - February 13, 2015. With texts by Orlando Britto Jinorio and interviews by Katrin Steffen. Rio de Janeiro, Casa Daros, 2014. (www.illusions.casadaros.net)

Ilusões. Exhibition catalogue, Casa Daros, Rio de Janeiro, Brazil, September 9, 2014 - February 13, 2015. With texts by Orlando Britto Jinorio and interviews by Katrin Steffen. Rio de Janeiro, Casa Daros, 2014. (www.illusions.casadaros.net)

Identidad provisional. Primera entrega = Provisional identity. First delivery. Exhibition catalogue, Casa Vecina, Mexico City, 2005 - 2010. With texts by Pilar Villela, Francisco Reyes Palma (et al.). Mexico City, Casa Vecina, 2011.

Don't stare at the sun. Works from the Daros Latinamerica Collection. Exhibition catalogue, Centre of Contemporary Art Znaki Czasu, Torun, Poland, June 6 - September 13, 2009. With texts by Agnieszka Pindera and Johanna Zielinska. Torun, Centre of Contemporary Art Znaki Czasu, 2009.

For you / Para usted. The Daros Latinamerica tapes and video installations. Exhibition catalogue, Daros Exhibitions, Zurich, April 25 - September 6, 2009. Edited by Katrin Steffen and Domingo Eduardo Ramos. Zurich, Daros Latinamerica AG, 2009.

La cooperativa de arte en video (DVD). Curated by Fernando Llanos and A. Salomón. www.video-mexico.org, 2009.

Latin America. Auction catalogue, Phillips de Pury, New York, October 3, 2009. With texts and an interview with Vik Muniz by Karen Wright. New York, Phillips de Pury, 2009.

Informe. Collection catalogue, MUAC, Mexico City. With a text by Olivier Debroise. Mexico City, Turner, 2008.

Videoman. Catálogo de la exhibición de Fernando Llanos. Exhibition catalogue, Museo de Arte Contemporáneo Alfredo Zalce, July 18 - September 7, 2008, Morelia, Michoacán, Mexico. With texts by Fernando Llanos, Laura Baigorri, Mauricio Alejo (et al.). Mexico City, Ediciones Necias, 2008.

Puntos de vista. Zeitgenössische Kunst aus der Daros-Latinamerica Collection. Exhibition catalogue, Museum Bochum, Bochum, Germany, June 2 - August 26, 2007. With texts by Michael Nungesser and a dialogue between Hans Günter Golinski and Hans-Michael Herzog. Bochum, Museum Bochum, 2007.

Casa del Lago Juan José Arreola. Memorias de exposiciones 06. Exhibition catalogue, Casa del Lago Juan José Arreola, 2006. With texts by Itzel Vargas Plata (et al.). Mexico City, UNAM, 2007.

Arriaga, Guillermo. Fernando Llanos. Cursiagridulce. Dibujoterapia impresa para apapachar obsesiones. Mexico City, Trilce Ediciones, 2006.

Prieto, José Manuel. México D.F.. Paris, Toluca Project, 2004.

Octava Bienal de la Habana. El arte con la vida. Exhibition catalogue, 8th Habana Biennial, Centro de Arte Contemporáneo Wilfredo Lam, La Habana, Cuba, 2003. With texts by Rafael Acosta de Arriba, Hilda María Rodríguez Enríquez (et al.). La Habana, Consejo Nacional de Artes Plásticas / Centro Wifredo Lam, 2003.

BIF 1999 Frontera. 9 Bienal Internacional de Fotografía. Exhibition catalogue, Centro de la Imagen, México DF, 1999. With texts by Patricia Mendoza (et al.). Mexico City, Centro de la Imagen, 1999.

Mauricio Alejo. Objetos ajenos. Exhibition catalogue, Galería OMR, Mexico City, July-August 1999. Mexico City, Galería OMR, 1999.

Octava Bienal de Fotografía. Exhibition catalogue, Octava Bienal de Fotografía, México, 1997. With texts by Patricia Mendoza (et al.). Mexico City, Centro de la Imagen, 1997.

Werke