Gyula Kosice. Röyi, 1944
von
Rodrigo Alonso

Gyula Kosice betrachtete Röyi als programmatisches Werk, als Arbeit, die seiner zukünftigen ästhetischen Forschung die Richtung wies.

Das Statische steht im Widerspruch zur Natur und hat niemals eine Epoche ins Gleichgewicht gebracht oder komplettiert. Für ein Werk oder einen erfundenen Organismus gibt es keine organisierten Widerstände.
Gyula Kosice1  1 Gyula Kosice. Invención, Eigenverlag, Buenos Aires, 1945.

Gyula Kosice übersiedelt 1928 im Alter von nur drei Jahren aus seinem Geburtsland, der Tschechoslowakei, nach Argentinien.2  2 Sein ursprünglicher Name ist Eduardo Fallik. Nach Angaben des Künstlers lag es an seiner Bewunderung für Leonardo da Vinci, dass er, als er sich für eine Künstleridentität entscheiden musste, den Namen seiner Heimatstadt Kosice als Nachnamen wählte. Wenngleich ihn anfänglich eher die Dichtkunst anzieht, ist er fasziniert von Leonardo da Vinci und der intellektuellen Diskussionen, die zu dieser Zeit die Gemüter der innovativeren Künstler erhitzen: So findet er Zugang zur Welt der visuellen Künste. Er absolviert kein offizielles Kunststudium, verschreibt sich aber mit Leib und Seele den Ideen der europäischen Kunstavantgarde – insbesondere des russischen Konstruktivismus und des Neoplastizismus – und tritt erstmals als Autodidakt mit Skulpturen in Erscheinung.

Röyi (1944) ist sein erstes Werk von Bedeutung. Es fällt in die Zeit der Diskussionen, die eine Gruppe junger argentinischer Künstler über das Ende der gegenständlichen Kunst führt. Schon bald rufen sie die ersten Bewegungen zur Konkreten Kunst ins Leben: Movimiento Arte Concreto-Invención (1945), Arte Madí (1946) und Perceptismo (1947). 

Kosice ist einer der Begründer von Arte Madí und ohne Zweifel der grösste Impulsgeber der Bewegung.3  3 Die Gruppe erfuhr im Laufe der Jahre unterschiedliche Zusammensetzungen. Zu den wichtigsten Künstlern und Gründern zählen Carmelo Arden Quin, Roth Rothfus, Edgar Bayley und Diyi Laañ (Kosices Ehefrau). In dem Manifest, das die Gruppe auf der ersten Ausstellung präsentiert, wird festgelegt: „Die Madí-Skulptur: dreidimensional, ohne Farbe. Totale Form und Körper mit Raum, mit Gelenkbewegungen, Rotation, Translation etc.“4  4 “Manifiesto Madí”, Text ohne Autorenangabe, veröffentlicht in der Revista Madí, Nr. 0, Buenos Aires, 1947.

Diese Charakteristika sind in Röyi bereits gegeben. Hier erlaubt ein Gebilde aus acht gedrechselten Holzteilen mit sieben Scharnierpunkten eine Vielzahl von Bewegungen, die bewirken, dass die Skulptur keine definitive Form hat. Der Künstler lässt das Publikum die Gesamtkonfiguration des Ausstellungsstücks verändern. So antizipiert er die Entwicklung der kinetischen und partizipativen Kunst, die in Argentinien ab den 1960er-Jahren ihre Blütezeit hat.

Gyula Kosice, Röyi, 1944/1952. Daros Latinamerica Collection, Zürich

Kosice erinnert sich an die Überlegungen, die ihn zur Schaffung von Röyi veranlasst haben:

Es war für mich eine unabdingbare Prämisse, den statischen Charakter des traditionellen Kunstwerks zu überwinden. Die Einführung der Bewegung – die es bei den Futuristen und dem frühen Duchamp auf der Darstellungsebene bereits gab – war endlich in der abstrakten Kunst angekommen, nämlich in einigen Werken von Gabo, Moholy-Nagy und auch bei Duchamp selbst, doch in all diesen Fällen handelte es sich um eine einzige, regelmäßige, vom Künstler geplante und über einen mechanischen Kniff ausgeübte Bewegung […] Außer dem kinetischen Aspekt gab es in Röyi zwei weitere grundlegende Elemente: den Zufall und die Beteiligung des Betrachters an der Gestaltung des Werks. Im Grunde hatte es keine definitive Form, weshalb es eine Fülle von Formen annehmen konnte, wodurch der Betrachter zum aktiven Subjekt in dieser Transformationskette wurde.5  5 Gyula Kosice, “Capítulo,” in: Autobiografía, Asuntos Impresos, Buenos Aires, 2015.

Röyi ist erstmals bei der Eröffnungsausstellung von Arte Madí zu sehen, die im August 1946 im Instituto Francés de Estudios Superiores in Buenos Aires stattfindet. Ein Jahr zuvor wird das Werk jedoch auf dem Titelblatt der ersten Nummer der Zeitschrift Invención abgebildet, die Gyula Kosice herausgibt und in der sich auch Gedichte und Theoriebeiträge aus seiner Feder befinden. Sein Werk in dieser wichtigen Publikation abzudrucken, verweist auf die Bedeutung der Skulptur für seinen Urheber: Er betrachtet sie quasi als programmatisches Werk, als Arbeit, die seiner zukünftigen ästhetischen Forschung die Richtung weist.

Gyula Kosice and Röyi, inaugural exhibition of Arte Madí, Instituto Francés de Estudios Superiores de Buenos Aires, 1946

Kosice misst der Erfindung in der künstlerischen Produktion grosse Bedeutung bei. Er glaubt nicht, dass sie sich formal ableiten lässt oder vorgegebenen Normen der Verwirklichung folgt. In seinem Verständnis entspringt sie dem reinen, spontanen Schöpfungsakt, der keinen Regeln gehorcht. Deshalb beginnt er mit gänzlich neuen Materialien und Verfahren zu experimentieren. 1946 fertigt er die ersten Skulpturen aus Neonröhren, und 1948 konstruiert er Una gota de agua acunada a toda velocidad (Ein Tropfen Wasser, sehr schnell bewegt), eine kleine, motorbetriebene kinetische Vorrichtung, bei der ein mit Wasser und Luft gefüllter Plexiglasbehälter in Bewegung versetzt wird. Später entwirft er die Hidroesculturas (Hydroskulpturen), bei denen Wasser mithilfe von Licht und durchsichtigen plastischen Strukturen sowie von Wasser- und Luftpumpen modelliert wird. Dazu verfasst er 1959 das Manifest La arquitectura del agua en la escultura (Die Architektur des Wassers in der Skulptur).

Gyula Kosice, Una gota de agua acunada a toda velocidad, 1948. Museo Kosice, Buenos Aires

Röyi ist Ausgangspunkt für diese und viele weitere Forschungen im Laufe von Kosices Leben. Gleichzeitig ist es eine einmalige Arbeit. Nie wieder fertigt der Künstler eine ähnliche Skulptur: Ihre Einzigartigkeit wirkt immer noch radikal. Und ihre innovativen Ideen bleiben fast zwanzig Jahre lang unterschwellig bestehen, bis in den 1960er-Jahren die kinetischen und partizipativen Praktiken aufkommen. Die zukunftsweisende Geometrie dieser Skulptur überrascht uns auch heute noch.

Rodrigo Alonso, 2017 Rodrigo Alonso ist freischaffender Kurator und Professor für Zeitgenössische Kunst an der Universidad Nacional de las Artes, Buenos Aires, Argentinien.

(Übersetzung von Marianne Gareis)