Gego. Flüchtige Transparenz
von
Mónica Amor

Gegos strengste, präziseste Arbeiten tauchen in die Opazität lokaler Effekte, perzeptueller Ambiguität und kontextueller Schwingungen ein. Ihre Geometrien sind dazu geschaffen, in einem Umfeld betrachtet zu werden, nicht auf einem Blatt Papier.

1974 nahm Gego (Gertrud Goldschmidt, 1912–1994) die Arbeit an einer Werkreihe auf, die sie Troncos (Stämme) nannte, gefolgt 1976 von einer weiteren namens Esferas (Kugeln). Die Troncos bezeichnete sie in einem Notizbuch über ihre Werke von 1971 bis 1984 auch als „Säulen“ – und tatsächlich haben sich diese vertikalen Stücke, in Statik und Struktur Säulen in der Architektur nicht unähnlich, weit entfernt von Gegos ausschweifenden Reticulárea (1969) und den darauffolgenden Chorros (1970–71).

Gego, Troncos and Esferas, Installation view Museu D`Art Contemporani de Barcelona, 2006. © Museu d'Art Contemporani de Barcelona
Gego, Reticulárea (Ambientación), 1969, Installation view Museo de Bellas Artes, Caracas, 1969. Photo Paolo Gasparini, © Fundación Gego
Gego, Chorros, Exhibition Sculpture and Drawings, Betty Parsons Gallery, New York, 1971. Photo William Suttle, © Fundación Gego

Freistehend oder an der Decke aufgehängt wachsen die Troncos scheinbar gleichmässig und systematisch empor, einige von ihnen schmal und hoch, andere kompakt und kurz. Sie bestehen aus einem netzförmigen Gitter, das in aufeinandergestapelten Ringen einen impliziten Kern umfängt. Die Konstruktion scheint in ihrer komplexen Verwobenheit einer Anordnung zu folgen, die wenig Spiel für Fehler oder Abweichungen lässt, die aber für jeden Tronco anders ist. In manchen Fällen ist das strukturgebende Geflecht offen, luftig, transparent; an anderen Stellen ist es fest und akkurat zu einer polygonalen (z. B. fünf- oder sechseckigen) Matrix verknüpft. Zuweilen windet sich eine Linie aus Bronzeröhren um den Körper des „Stamms“, wie beispielsweise in Tronco No. 2 (1975).

Unter Gegos post-Reticulárea-Arbeiten kommen die Troncos einem konstruktivistischen Ansatz am nächsten: Sie sind klar definiert, in sich autark, strukturell integer, systematisch konzipiert. Und sie sind in physischer sowie – zumindest prinzipiell – in mentaler Hinsicht transparent, da wir als Betrachtende die Struktur der Arbeit, ihre Konfiguration und die Logik ihrer Verwobenheit erkennen und durchdringen können. Ebenfalls zu jener Zeit, 1976, veröffentlichte Gego gemeinsam mit ihren Studierenden am Instituto de Diseño Fundación Neumann die Schrift Espacio, Volumen y Organización (Raum, Volumen und Organisation), welche die zunehmende Komplexität von Volumen in Abhängigkeit von der Organisation im Raum näher erläutert. Gegos systematisches Studium der klassischen Geometrie im Zusammenhang mit ihrer didaktischen Tätigkeit am Instituto begründete offenbar diese Hinwendung zu einem autarken, organischen Modell, dessen operative Struktur sich durch das Verhältnis seiner einzelnen Teile zum Ganzen definiert. Die Geometrie – idealtypisches Kommunikationsmittel der Architektur – stellt für die ausgebildete Architektin Gego zudem gewissermassen eine Lingua franca dar.

Im Zeichen dieser Publikationen, unmittelbar anknüpfend an ihr zwischen 1971 und 1976 am Instituto entwickeltes Seminario de Relaciones Espaciales (Seminar der räumlichen Verhältnisse), kehrte Gego also zurück zu einer systematischeren Anwendung der Geometrie. In dieser Zeit ist die Künstlerin „hingerissen von der Geometrie“, so Ruth Auerbach, die prägnant das morphologische und konzeptionelle Paradox der 1970er-Jahre erläutert: „...ihr Interesse [an Geometrie] wächst proportional zu ihrem kreativen Impuls, ihre Entdeckung freizusetzen.“1  1 Ruth Auerbach, “Gego. Constructing a Didactics,” in: Gego. Obra Completa 1955–1990, Caracas, Fundación Cisneros, 2000, p. 410. Hier setzt Gegos systematische Erkundung des referenziellen Universums der Reticulárea an: „Ihr Augenmerk ist auf Mathematik in der Kunst, auf der Analyse retikulärer Strukturen, Tensegrität, auf den geodätischen Projekten eines Buckminster Fuller, auf Kugelmodellen und vor allem auf der Transformation von Polyedern.“ 2 Ibid. Viele der damals entstandenen Esferas sind wörtliche Übersetzungen der in den didaktischen Settings des Institutos angewandten geometrischen Modelle. Gego erfreute sich aber auch an der ausgeprägten Spanne zwischen eidetischer Dimension des Modells und perzeptueller Ambiguität des Objekts. So setzte sie sich schalkhaft über die Strenge geometrischer Abstraktion hinweg, indem sie die Esferas mit Versatzelementen umgab, zum Beispiel mit einer schmalen Kette aus Metallstückchen.

Gego, Esfera No. 5, 1977. Photo Anne and Thierry Benedetti, © Fundación Gego

Trotz ihrer ausgesprochenen Treue zur Morphologie mathematischer Modelle schwelgte Gego – befördert von der materiellen Transparenz ihrer Strukturen – tatsächlich in einer Art von geometrischem Subjektivismus. Zwar können wir die vorliegenden Arbeiten gleichsam mit den Augen durchschreiten und den Raum jenseits davon erblicken. Diese Umgebung belebt das Werk und geht in ihm auf, bietet jedoch keinen Hintergrundkontrast, der die Lesbarkeit erleichtern könnte. So löst sich genau in dieser (flüchtigen) Transparenz aus feinen Aluminiumstangen, die das geometrische Modell umfangen, jegliche klare Struktur auf. In anderen Worten: Die physische Transparenz unterläuft die konzeptuelle Transparenz aufgrund der Unmöglichkeit, das Werk von seiner Umgebung zu isolieren. Die zunehmende Komplexität der Modelle (z. B. Tres Icosidodecaedros, 1977) oder der Einschluss einer Kugel in einer Kugel (Esfera No. 3, 1976) verstärken diesen Zustand. Derartige Doppelungen deuten Vorsprünge, Verformungen und Unordnung an. Kein Wunder, dass der englische Begriff messy (unordentlich) wiederholt in Gegos Beschreibungen dieser Arbeiten aus den 1970er-Jahren auftaucht. Im Zusammenhang betrachtet, tauchen gerade Gegos strengste, präziseste Arbeiten in die Opazität lokaler Effekte, perzeptueller Ambiguität und kontextueller Schwingungen ein. Ihre Geometrien sind dazu geschaffen, in einem Umfeld betrachtet zu werden, nicht auf einem Blatt Papier.

Gego, Tres icosidodecaedros, 1977/2000. Photo Reinaldo Armas Ponce, © Fundación Gego

Dennoch gibt es Ansätze für zweidimensionale Wiedergaben. So wurde eine Reihe von Fotografien für ein Buch produziert, das die Retrospektive im Museo de Arte Contemporáneo de Caracas 1977 begleitete. Diese Bilder betonen den Schattenwurf an einer Wand, die durch eine dramatische Beleuchtung verzerrten geometrischen Formen oder die Auflösung der strikten Linearität des Modells in einer unscharfen Einstellung. Die Troncos wurden vor einem schwarzen Hintergrund fotografiert und so beleuchtet, dass der spiegelnde Edelstahl wie eine zweidimensionale, den Raum begrenzende Zeichnung erscheint.

Gego, Tronco No. 5, 1976. Photo Anne and Thierry Benedetti, © Fundación Gego

Ähnliche fotografische Verfremdungseffekte wiederholen sich in einem rätselhaften Bild, das etwa zur gleichen Zeit entstand und drei sich überlappende Troncos zeigt. Klarheit und Struktur weichen, um Raum zu schaffen für die in Gegos Arbeiten bevorzugten verwirrenden Vernetzungen.

 Mónica Amor, 2017 Mónica Amor ist Professorin für Moderne und Zeitgenössische Kunst am Maryland Institute College of Art, Baltimore, USA.

(Übersetzung von Andrea Thode)