Mira Schendel. Der Körper denkt und der Verstand fühlt
von
Taisa Palhares

Von Anfang lassen sich dem Œuvre von Mira Schendel sehr eigene Charakteristika zuschreiben: eine Vorliebe für die Asymmetrie in der Komposition, die Betonung der Materialität in ihren Werken und die zentrale Bedeutung des Begriffs des „Machens“ als Bindeglied zwischen der Erfahrung der Künstlerin und der Welt.

Die in Zürich geborene und später in Brasilien lebende Mira Schendel (1919–1988) zeichnet sich dadurch aus, wie sie die ab Mitte des 20. Jahrhunderts von der modernen Kunst eröffneten Wege beschreitet. Erst nach ihrer Ankunft in Brasilien 1949 wird sie künstlerisch aktiv. Als Kind italienisch-deutscher Eltern wird Myrrha Dagmar Dub katholisch erzogen, doch hat sie in ihrer Kindheit auf regelmässigen Reisen nach Deutschland auch Kontakt zur jüdischen Familie des Vaters. Sie wächst in Mailand auf, wo sie ihre ersten Zeichenstunden erhält. Wäre Mira Schendel in einer anderen Zeit geboren, wären diese biografischen Daten vielleicht unbedeutend. Doch das Erstarken des Faschismus führt bei ihr, wie auch bei zahlreichen anderen Europäern, zu einem Bruch im Leben. Kontinuität stellt sich erst in einem Land wieder ein, zu dem sie vorher keinerlei Beziehung hatte. Die zwangsläufige Isolation, die diese Situation mit sich bringt, sowie die besondere Atmosphäre der Nachkriegszeit in Lateinamerika sind entscheidend für ihre Definition als Künstlerin. 

Ende der 1940er-Jahre beginnt sie mit figurativen Malereien und Zeichnungen – Landschaften, Stillleben, Innenräume und Fassaden –, die in dunklen, melancholischen Tönen gehalten sind und einer intuitiven Geometrie folgen. Das Brasilien der frühen 1950er-Jahre prägte eine leidenschaftliche öffentliche Diskussion über Sinn und Funktion der Kunst in der modernen Industriegesellschaft: Die einen verteidigten die figurative Kunst nationaler und revolutionärer Prägung, die anderen verfochten den „Abstraktionismus“ der Nachkriegszeit, der sich anbot, um den Kunstbetrieb zu erneuern; die radikalsten Thesen zur neuen Rolle der Kunst in der Gesellschaft vertraten aber die konkreten und neokonkreten Künstler. Mira Schendel schliesst sich keiner dieser Gruppierungen an, sondern bewegt sich stets am Rand dieser Künstlerkreise, die für ihren Werdegang aber dennoch eine Rolle spielen. Von Anfang lassen sich ihrem Werk sehr eigene Charakteristika zuschreiben: eine Vorliebe für die Asymmetrie in der Komposition, die Betonung der Materialität in ihren Werken und die zentrale Bedeutung des Begriffs des „Machens“ als Bindeglied zwischen der Erfahrung der Künstlerin und der Welt.

Mira Schendel interessiert sich besonders für die westliche und die fernöstliche Philosophie sowie für theologische und religionsgeschichtliche Fragen. Daher stehen ihre theoretischen Referenzen diesen Wissensgebieten manchmal näher als der Kunstgeschichte und -theorie. Selbst in ihren figurativen Malereien aus den 1950er-Jahren lässt sich die Absicht erkennen, Raum und Zeit als im Werden begriffene Prozesse zu begreifen, als Phänomene, die vom Einzelnen als Entfaltung einer sich ausdehnenden Zeitlichkeit erfahren werden. Die ausgeprägte Materialität in ihren Arbeiten, die sich auch über klare und sparsame Aktionen äussert, ist gleichermassen ein Hinweis auf diese Raum-Zeit-Expansion.

Mira Schendel, Untitled, 1965. Daros Latinamerica Collection, Zürich

In den 1960er-Jahren entstehen Mira Schendels bedeutendste Werke. Nach und nach gibt sie die Malerei auf und geht dazu über, mit Spezialpapier zu arbeiten, allerdings auf recht unkonventionelle Art. Bei Zeichnungen wie Untitled (1965), die zur Serie Bombas (Bomben) zählt, erweitert sie die Elemente, die man vorher in ihren Malereien beobachten konnte, um eine Synthesefähigkeit, die sie später auch auf andere Werke dieser Phase ausdehnt. Sie kombiniert geometrische Formen mit freier und schneller Gestik. Die Materialität wird wichtiger, und das Spiel um Zufall und Absicht, Konstruktion und Dekonstruktion tritt in den Vordergrund. Hier schimmert das Thema der Vergänglichkeit durch, die sie bereits in ihren früheren Stillleben suggerierte.

Die grösste Kraft entwickelt Mira Schendels subtiler und präziser Strich jedoch in den Zeichnungen der Serie Monotipias (Monotypien). Diese 1964 und 1965 gefertigten Ölzeichnungen auf Reispapier verdichten in ihrer Einfachheit die essenziellen poetischen Charakteristika ihres Werks. Die Asymmetrie der Malereien findet sich wieder in der Zartheit kleiner, ephemerer Architekturen, in flüchtigen Formen, die einen einmaligen Augenblick festhalten, in einer Geste, die sich in der Zeit entfaltet. Als Serie, deren Bestandteile die Künstlerin nur selten konkret bestimmte, verweisen die Monotipias auf die offene Zeitlichkeit des Unvollendeten und gleichzeitig auf die Vorstellung von Zeit als Verdichtung ephemerer Augenblicke, die ewig werden, sobald man sie einfängt.

In Bezug auf die Frage nach dem Raum entwickelt die Künstlerin eine besondere Art, die Monotipias zu präsentieren: Sie schweben, jede zwischen zwei Acrylplatten montiert, im Ausstellungsraum. Auf diese Weise verliert sich die Vorstellung von Vorder- und Rückseite, und sie werden wie Körper gesehen, die denselben Raum wie der Betrachter einnehmen, in einer Beziehung von Subjekt zu Subjekt und nicht nur als einfache Anschauungsobjekte. Ohne auf den Gedanken der Partizipation zurückzugreifen, der in dieser Zeit sehr angesagt ist, zielt Schendel auf ein erweitertes Konzept von Körperlichkeit und ästhetischer Wahrnehmung ab. Deshalb werden diese Zeichnungen, sobald sie ausgestellt sind, vom Raum und der körperlichen Präsenz des Betrachters neu belebt.

Mira Schendels Werk regt zu philosophischen Überlegungen an, weshalb es lange Zeit auch als hermetisch galt. Dennoch spürt man in ihren Arbeiten die Reflexion der Künstlerin, die über das „Machen“ erfolgt und davon nicht getrennt werden kann. So sehr ihre Arbeiten auch metaphysische Fragen betreffen, stellen sie nie nur ein konzeptuelles Problem dar, sondern setzen es visuell um. So zum Beispiel die Frage nach der Transparenz der Materie – und folglich auch der Welt, die in fast jedem ihrer Werke präsent ist; auch in den Objetos gráficos (Grafische Objekte), in denen sie die Opazität der Sprache aufgreift. Diese Arbeiten, für die sie Letraset, Reispapier und Acrylplatten verwendet, zeigen die Kehrseite der Buchstaben, das, was sie in gewisser Weise weniger dicht erscheinen lässt. Wie bei der konkreten Poesie, für die sie ein spezielles Interesse hegt, verwendet Schendel das Wort nicht nur in seiner Kommunikationsfunktion, sondern auch als grafisches und lautliches Zeichen. Noch einen Schritt weiter geht sie, wenn sie den Wort-Körper der Objetos gráficos nicht mehr nur auf den weissen Raum des Papiers beschränkt, sondern ihn in den dreidimensionalen Raum der Welt stellt.

Mira Schendel, Objeto gráfico, 1967. Daros Latinamerica Collection, Zürich

Wer Mira Schendels Werdegang verfolgt, spürt, dass der Körper denkt und der Verstand fühlt. Und dass die Polaritäten, die die westliche Zivilisation bestimmen – Vernunft vs. Sensibilität; Denken vs. Körperlichkeit; Essenz vs. Schein –, nie eine brauchbare Option für jemanden sein konnten, der die kollektive Irrationalität des frühen 20. Jahrhunderts überlebt hat. Wenn Mira Schendel sich in ihr stilles Universum zurückgezogen hat, dann nur, um im Leben aktiver und präsenter zu bleiben.

Taisa Palhares, 2017 Taisa Palhares ist Kunstkritikerin und Professorin für Philosophie der Kunst an der Universidade Estadual de Campinas (UNICAMP), Campinas, Brasilien.

(Übersetzung von Marianne Gareis)