„Sobald Farbe nicht länger an das Rechteck noch an irgendeine Darstellung auf diesem Rechteck gebunden ist, neigt sie dazu, sich selbst zu verkörpern; sie wird verzeitlicht, erschafft ihre eigene Struktur, und das Kunstwerk wird zum ‚Körper der Farbe‘.“ (Hélio Oiticica)
Hélio Oiticica begann in den späten 1950er-Jahren Form und Raum eingehend zu erkunden: Sie führten ihn aus der zweidimensionalen Ebene der Malerei in den realen Raum des Betrachters. Beginnend mit konkreter Malerei auf Papier untersuchte er in seinen Metaesquemas (Metaschemen) zunächst, wie sich durch Neigen oder Doppeln von geometrischen Formen visuelle Dynamik erzeugen lässt, bevor er sein Augenmerk auf die Monochromie richtete. Kurz nach der Fertigstellung einer Serie weisser Bilder schuf er 1959 mit Invenções (Erfindungen) kleine, viereckige Malereien ohne Rahmen, anhand derer er sein Konzept von „verkörperter Farbe“ entwickelte. Das kleine Format dieser Arbeiten – 30 cm im Quadrat –, ihre disperse Anordnung an der Wand und der räumliche Versatz vor der Wand, den die Holzaufhängung verursachte, resultierten in einer Farbverteilung, die Oiticica mit der zeitlichen Aneignung des Werks assoziierte. Ein Jahr danach schrieb er, sobald „Farbe nicht länger an das Rechteck noch an irgendeine Darstellung auf diesem Rechteck gebunden ist, neigt sie dazu, sich selbst zu verkörpern; sie wird verzeitlicht, erschafft ihre eigene Struktur, und das Kunstwerk wird zum ‚Körper der Farbe‘.“1 1 Hélio Oiticica, “5 de outubro de 1960”, in: Aspiro ao grande labirinto, 17. (Übersetzung von Andrea Thode)
Entsprechend widmete sich Oiticica noch im selben Jahr seinem Werkkomplex Relevos espaciais (Räumliche Reliefs). Für diese Arbeiten brachte er mit einer Spritzpistole leuchtende Rot- und Gelbtöne auf geradlinige Formen auf. Indem er drei- und viereckige, verschachtelte und verwinkelt geschichtete Holztafeln verwendete, konfigurierte er Formen und Aufhängungen neu und durchbrach gewohnte Blickweisen auf die Malerei. An der Decke aufgehängt konnten die Relevos ihre Wirkung im architektonischen Raum voll entfalten und das intermediale Potenzial des Reliefs nutzen. Zum einen wird hier der Einfluss von Tatlins geometrischer Abstraktion auf die brasilianische Kunst der späten 1950er-Jahren sichtbar. Zum anderen klingt das Konzept des Nicht-Objekts an, das Ferreira Gullar ins Leben gerufen hatte. Der brasilianische Dichter und Kunstkritiker unterstützte in seinen Schriften die neo-konkreten Künstler, darunter auch den jungen Oiticica.
In Relevos öffnen Schichten und Fugen die Struktur der Aufhängung und legen so den fiktionalen Charakter der Bildebene offen. Oiticicas Relevos stehen auch in Interaktion mit den Arbeiten Lygia Clarks, einer anderen neo-konkreten Künstlerin, die sich ebenfalls vom Konzept der Medienspezifität, wie es Van Doesburg 1930 erarbeitet hatte, zu verabschieden anschickte.2 2 Im Manifest von 1930 heisst es: „Das Gemälde sollte vollständig aus rein bildnerischen Elementen konstruiert werden, das heisst aus Flächen und Farben. Ein bildnerisches Element hat keine andere Bedeutung, die über es hinausginge, infolgedessen hat das Gemälde keine andere Bedeutung als sich selbst.“ O. G. Carlsund, Theo van Doesburg, J. Hélion, L. Tutundjian und M. Wantz, abgedruckt in: W. Asholt / W. Fähnders, Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, 396. Die Arbeiten, die Oiticica zwischen 1959 und 1960 entwickelte, sind weder Malereien noch Skulpturen; vielmehr entsprechen sie dem intermedialen Zustand des Nicht-Objekts, das Gullar – nach dem Verzicht auf Rahmen und Sockel in den Werken der von ihm unterstützen Künstler und im Dialog mit der Phänomenologie – als „reine Erscheinung“ definiert. Gleichzeitig näherten sich diese Arbeiten dem Status gewöhnlicher Objekte und verweigerten sich dem Vorstellungsraum. So schrieb Oiticica in 1960: „Als die Leinwandfläche eine aktive Funktion erhielt, musste dem Faktor Zeit eine neue und wesentliche Bedeutung für die Nicht-Darstellung zukommen. So wurde das Konzept des Nicht-Objekts geboren, ein von Ferreira Gullar geprägter und erläuterter Begriff, der zutreffender ist als die Bezeichnung‚ Bild‘, da die Struktur nicht mehr einseitig ist wie in der Malerei, sondern multidimensional.“3 3 Hélio Oiticica, “Côr, tempo e estrutura”, in: Suplemento Dominical do Jornal do Brasil, 26. November 1960, 5. (Übersetzung von Andrea Thode)
Oiticica begann 1963 mit der Werkreihe Bólides, bemalte Kisten mit Laden und Schiebetüren, die verschiedene Materialien integrierten, etwa Kieselsteine, Spiegel und Gewebestücke, aber auch Glasgefässe und Flaschen mit Muscheln, Pigmenten und farbigen Flüssigkeiten. In diesen Arbeiten setzte er sich mit den eigenen Schriften sowie mit jenen der Künstlerin Lygia Clark und der Kunstkritiker Mario Pedrosa und Ferreira Gullar auseinander. Die „erste Intention“ des Kunstwerks war für Oiticica weiterhin von zentraler Bedeutung.
Die vereinnahmten Objekte, hier Glasflaschen und Pigmente, werden Teil des Gesamtwerks: Sie sind nicht mehr als isolierte Teile aufzufassen, sondern als ein integriertes Phänomen, das „direkt“ sein soll. Die im „Manifiesto Neoconcreto“ vorgeschlagene phänomenologische Reduktion erfordert die Erfahrung des Erstaunens und setzt damit verbunden Entwöhnung voraus. Entsprechend dieser Prinzipien produziert die Wiederaneignung der Objekte und Materialien in diesen Werken „ein Verhältnis …, welches das bereits Bekannte in neues Wissen transformiert.“4 4 “Uma relação que torna o que era conhecido num novo conhecimento”, ebd., 66. Das verwandte Konzept der Entfremdung sollte zunehmend an Bedeutung in Oiticicas Arbeit gewinnen. Siehe “Ivan Cardoso entrevista Hélio Oiticica,” in: R. F. Lucchetti und Ivan Cardoso, Ivampirismo: O cinema em pânico, Rio de Janeiro, Editora Brasil-America, Fundação do Cinema Brasileiro,1979, 74. (Übersetzung von Andrea Thode) Was verbleibt ist das, was wir nicht kennen, jene Aspekte der Arbeit, die der Vorstellungskraft offenstehen. Diese dynamischen Prozesse beschrieb Oiticica – vor dem Hintergrund von Gullars Bestreben, das Kunstobjekt über das Nicht-Objekt neu zu denken – als „Transobjektivität“ und das Kunstwerk als ein idealtypisches „Transobjekt“.5 5 Hélio Oiticica, “Bólides” (29. Oktober 1963), in: Aspiro ao grande labirinto, 66. Im Jahr 1960 erinnerte Lygia Clark daran, dass Pedrosa den Begriff „Transobjekt“ als Alternative zu „Nicht-Objekt“ vorgeschlagen hatte. Denn aus der Sicht der Kunstkritik stellt das „Nicht-Objekt“ die Form in Abrede, die doch das Sinnliche eines Objekts vermittelt, wohingegen nach Clark „Transobjekt“ nicht Verneinung, sondern Transzendenz, die Überwindung der Form impliziert. Siehe Lygia Clark, Diario-2, Folder 1960-4, Archiv des Associação Cultural “O Mundo de Lygia Clark”, Rio de Janiero.
Mónica Amor, 2017 Mónica Amor ist Professorin für Moderne und Zeitgenössische Kunst am Maryland Institute College of Art, Baltimore, USA.
(Übersetzung von Andrea Thode)