Cildo Meireles. Eingriffe in ideologische Kreisläufe
von
Moacir dos Anjos

In Cildo Meireles’ Œuvre erlangt der Begriff Kreislauf früh eine zentrale Bedeutung und verleiht verschiedenen seiner Arbeiten Materialität und Sinn. Bereits in seinen Texten aus der ersten Hälfte der 1970er-Jahre arbeitet der Künstler die Existenz umfassender Kreislaufsysteme heraus, in die individuell und ohne jede Beschränkung Informationen eingeschleust werden können, die den Eigeninteressen, die diese Systeme stützen, zuwiderlaufen.

Fast seit Beginn seiner Karriere beschäftigt sich Cildo Meireles kritisch mit der Idee des Raums, in dem das menschliche Leben abläuft – sei es in seiner physischen, alltäglichen Dimension oder aus einer politischen Perspektive mit erweiterter Zeitlichkeit heraus –, wobei er reduzierende oder beschränkende Arten, Territorien zu topographieren, ablehnt. 1 „Viele meiner Arbeiten gehen von einem Territoriumsbegriff aus, der sich in diesem exakten Augenblick noch in einem Stadium der Nicht-Definition, der Suspension befindet. Für mich persönlich war der Begriff Land – im Sinne einer Erweiterung des Körpers oder als Ort lokalisierten Glücks – ein Klassifizierungscode, der genauso vage und unpräzise ist wie jeder andere auch. Einmal habe ich mir als Projekt ein Land überlegt, das so schmal ist, dass es nur vom Ausland gesteuert werden kann. Es sollte eine Mini-Fläche sein, eigentlich nur eine Grenze, auf der ein Mensch Platz findet, und vielleicht nicht einmal das.“ Cildo Meireles in: Cildo Meireles, geografia do Brasil. Rio de Janeiro, Artviva Produção Cultural, 2001, S. 20. (Übersetzung von Marianne Gareis) Für seine Arbeit wendet Meireles eine Methode zur Erforschung der Welt an, die sich nicht nur auf den Aspekt der Netzhautwahrnehmung, sondern auch auf die „Synthese von sensorischen und geistigen Zusammenhängen“ stützt, wodurch Sinne und Verstand sich gegenseitig stimulieren und gemeinsam Wissen über komplexe Räume produzieren. 2 Gullar, Ferreira, “Teoria do Não-Objeto”, Jornal do Brasil, 21. November/20. Dezember 1960. Die zentrale Bedeutung der synästhetischen Beziehungen im Werk Cildo Meireles’ wird analysiert in: Cabañas, Kaira M., “Cildo Meireles: Awareness Within Anaesthesia”, Parachute, 110, 2003, S. 24–41. Im Rahmen dieser Forschung erlangt bald schon der Begriff Kreislauf eine Bedeutung und verleiht verschiedenen Arbeiten Meireles’ Materialität und Sinn. Bereits in seinen Texten aus der ersten Hälfte der 1970er-Jahre arbeitet der Künstler die Existenz umfassender Kreislaufsysteme heraus, in die individuell und ohne jede Beschränkung Informationen eingeschleust werden können, die den Eigeninteressen, die diese Systeme stützen, zuwiderlaufen. 3 Siehe die unter dem Obertitel “Inserções em circuitos ideológicos 1970–75” zusammengefassten Texte, in: Cildo Meireles. São Paulo, Cosac Naify, 2000, S. 110–116.

Eine der ersten gegenständlichen Demonstrationen seiner Idee wurde in der Ausstellung Information (Museum of Modern Art, New York, 1970) gezeigt, in der er Inserções em circuitos ideológicos 1 – Projeto Coca-Cola (Eingriffe in ideologische Kreisläufe 1 – Projekt Coca-Cola) und Inserções em circuitos ideológicos 2 – Projeto cédula (Eingriffe in ideologische Kreisläufe 2 – Projekt Banknote) präsentierte. 4 Die Arbeiten Inserções em circuitos ideológicos 1 – Projeto Coca-Cola und Inserções em circuitos ideológicos 2 – Projeto cédula wurden gemeinsam in der Ausstellung Agnus Dei: Thereza Simões, Guilherme Magalhães Vaz e Cildo Meireles (Petite Galerie, Rio de Janeiro, 1970) präsentiert.

Cildo Meireles, Inserções em circuitos ideológicos 1 – Projeto Coca-Cola, 1970. Daros Latinamerica Collection, Zürich

Beim Projeto Coca-Cola wurde das Leergut dieses Erfrischungsgetränks (damals wiederverwertbare Pfandflaschen) mit Botschaften bedruckt, die im Widerspruch zu der „betäubenden“ Wirkung dieses Produkts standen, und anschliessend wurden die Flaschen sofort wieder in Umlauf gebracht. Als Beispiel und Demonstration dafür, dass ein solches Werk der Gegeninformation von jedem beliebigen Menschen nachgeahmt werden kann, präsentierte Cildo Meireles in seiner Ausstellung Flaschen, auf denen er einen bekannten Schmäh-Slogan gegen die nordamerikanische wirtschaftliche, politische und kulturelle Interventionspraxis gedruckt hatte (YANKEES GO HOME!) sowie eine Anleitung, wie sein Publikum eigene „kritische Meinungen“ in den verdinglichten Raum einschleusen konnte, in dem es lebte und für den Coca-Cola sinnbildlich stand. Im Laufe der Jahre und mit jeder Neuauflage dieser Arbeit in Ausstellungen fügte er andere Botschaften in diesen „ideologischen Kreislauf“ ein, sei es, indem er die eigenen Konventionen reflektierte, die den Raum der Kunst abstecken, die diese gesellschaftlich innehat (WHICH IS THE PLACE OF THE WORK OF ART?), sei es, dass er, im anderen Extrem, neue Verwendungszwecke für die in seiner Arbeit verwendeten Flaschen vorschlug (indem er beispielsweise Anleitungen zum Bau von „Molotowcocktails“ auf Coca-Cola-Flaschen druckte).

Cildo Meireles, Inserções em circuitos ideológicos 1 – Projeto Coca-Cola, 1970. Daros Latinamerica Collection, Zürich
Cildo Meireles, Inserções em circuitos ideológicos 1 – Projeto Coca-Cola, 1970. Daros Latinamerica Collection, Zürich

Das Projeto cédula wiederum war eine Aktion, bei der der Künstler auf im Umlauf befindliche Banknoten Anweisungen und Botschaften, ähnlich denen auf den Flaschen, druckte oder später auch stempelte, die er wie symbolische „Parasiten“ in den Geldkreislauf einbrachte, der ja viel grösser und schneller war als der des Coca-Cola-Leerguts. Zu den bekanntesten Botschaften, die er in diesen Jahren aussandte, zählen die Kritiken an der damals in Brasilien herrschenden Militärdiktatur (1964–1985): QUEM MATOU HERZOG? (Wer hat Herzog getötet?), lautete beispielsweise eine 1975 auf die staatlichen Banknoten gedruckte und auf die ungeklärte Todesursache des Journalisten Vladimir Herzog anspielende Frage, der von den Organen der politischen Repression in Haft genommen worden war.

Cildo Meireles, Inserções em circuitos ideológicos 2 – Projeto cédula, 1970. Courtesy of the artist. Photo: Pat Kilgore

Der Künstler sah in diesen Arbeiten das Gegenstück zu jenen Aktionen, mit denen Marcel Duchamp fast sechs Jahrzehnte zuvor das Ready-made erschaffen hatte: Statt ein Objekt aus der Warenwelt herauszunehmen und es in das geheiligte Terrain der Kunst zu bringen, schlug Cildo Meireles die Einschleusung lautstarker Botschaften in jenes homogene Terrain vor, auf dem die Waren zirkulierten und getauscht wurden. Er hinterfragte zudem den Begriff der Urheberschaft der eigenen Arbeit, da er ja andere dazu aufforderte, mit Hilfe der von ihm gelieferten Anweisungen derartige Eingriffe durchzuführen. 5 Diese Arbeiten, die nach Cildo Meireles’ schriftlichen Anweisungen angefertigt werden können, bezeichnet der Künstler, auf die beiden Wörter Phonem und Phänomen anspielend, mit dem Oberbegriff „Phonomäne”. Siehe: Cildo Meireles in: Obrist, Hans Ulrich, Interviews, Volume I. Mailand, Charta, 2003, S. 581. Diese Arbeit sollte tatsächlich nur über ihre individuelle, anonyme und diffuse Aussagekraft hinsichtlich der vielfältigen gesellschaftlichen Kontrollmechanismen ihren vollen Sinn und ihre Wirksamkeit erlangen, was die Inserções em circuitos ideológicos eher zu einem Vorschlag für eine andere Haltung gegenüber dem politischen Raum als zu einem echten Propagandaträger macht.6  6 Cildo Meireles. Valencia, IVAM Centre del Carme, 1995, S. 106. Die (reelle oder potenzielle) Beteiligung des Publikums sollte seitdem eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Meireles’ Arbeit spielen.

Die Grenzen der transformativen Macht von Inserções em circuitos ideológicos wurden von dem Kritiker Frederico Morais – einem der engsten Vertrauten Cildo Meireles’ – in einer Ausstellung getestet, die dieser im Juli 1970 in der Petite Galerie in Rio de Janeiro veranstaltete. Hierfür forderte Frederico Morais drei Künstler – Thereza Simões, Guilherme Magalhães Vaz und Cildo Meireles – auf, eigene Arbeiten für eine Ausstellung, die er Agnus Dei nannte, auszuwählen und zu präsentieren, und diese Arbeiten kommentierte er dann kritisch, allerdings nicht verbal, sondern über eigene künstlerische Interventionen. Dieses Verfahren nannte er A Nova Crítica (Die Neue Kritik).

Cildo Meireles, Inserções em circuitos ideológicos 1 – Projeto Coca-Cola, with an intervention by Frederico Morais, Installation view of the exhibition Agnus Dei, Petite Galerie, Rio de Janeiro, 1970.

Als Antwort auf die beiden von Cildo Meireles im Rahmen von Agnus Dei präsentierten, mit kritischen Botschaften bedruckten Flaschen der Serie Inserções em circuitos ideológicos 1 – Projeto Coca-Cola, installierte Frederico Morais auf dem Boden der Galerie 15.000 Flaschen desselben Erfrischungsgetränks, jedoch ohne jeglichen Eingriff.7  7 Zu diesem Ereignis siehe auch Rebouças, Júlia, Eis a arte. A atuação do crítico, curador e artista Frederico Morais, (PhD-Arbeit). Belo Horizonte, Universidade Federal de Minas Gerais, 2017, S. 231–240. Trotz seiner Begeisterung für Meireles’ Arbeit wollte der Kritiker mit seiner Aktion demonstrieren, dass ein Kräfteungleichgewicht zwischen den ideologischen Kreisläufen und der von dem Künstler angeregten Aktion des kritischen Eingriffs bestand. Ihre Macht, wie auch die jedweder Kunst, liegt laut Frederico Morais eher darin, auf einem symbolischen Terrain Wirkung zu entfalten, und weniger auf dem der Waren. 

Moacir dos Anjos, 2017 Moacir dos Anjos ist Kurator und wissenschaftlicher Leiter der Fundação Joaquim Nabuco (Fundaj), Recife, Brasilien.

(Übersetzung von Marianne Gareis)