León Ferrari. Heliografías
von
Andrea Giunta

In den Heliografías mischt sich der Humor mit einem Gefühl von Unterdrückung. Auf diese Weise verdichten die Werke, auch ohne einen direkten Bezug zur herrschenden Gewalt in Argentinien herzustellen, das Gefühl des Wahnsinns, des Eingesperrtseins und der Erstickung, das das öffentliche Leben in diesen Jahren bestimmt.

Der blaue Schleier als dominanter Ton in León Ferraris Heliografías (Blaupausen) markiert den enigmatischen Raum, in den sich diese in den ersten Jahren seines Exils in São Paulo entwickelte Serie einschreibt. Mit seinem so radikalen wie grossartigen Œuvre zählt Ferrari zu den wichtigsten Künstlern der 1960er-Jahre. Ab dem Ende der 1950er-Jahre stellt er seine aus Draht, Keramik, Holz und Zement gefertigten Skulpturen aus, und 1962 beginnt er eine Serie von Zeichnungen, die er bis zu seinem Tod im Jahr 2013 fortsetzt. Wenngleich die Zeichnung eine Kontinuitätslinie in seinem Gesamtwerk bildet, gibt es doch zahlreiche andere Kapitel, die eigenständige Serien definieren, in sich geschlossene Phasen mit einem Ausgangspunkt und einem abschliessenden Höhepunkt. So entstanden zum Beispiel die Zeichnungen mit Bezug zur Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens, eine Serie abstrakter Schriften, die Ferrari Cartas a un general (Briefe an einen General) nennt und die in den 1960er-Jahren in einem Schlüsselwerk für die Verschmelzung von künstlerischer und politischer Avantgarde gipfeln: La civilización occidental y cristiana (Die westliche christliche Zivilisation, 1965), eine Assemblage, bei der der gekreuzigte Jesus an der Reproduktion eines im Vietnamkrieg eingesetzten nordamerikanischen Bombers hängt. Nach dieser Arbeit zieht Ferrari sich aus dem traditionellen Kunstbetrieb zurück und gibt die Zeichnungen und Drahtskulpturen auf. Im November 1976 verlässt der Künstler mit einem Grossteil seiner Familie Buenos Aires und begibt sich in ein Exil, das bis 1991 andauern sollte.

Die Umstände waren widrig, er lebte in Ungewissheit und Unsicherheit. Und doch oder genau deswegen findet er zehn Jahre später zur Drahtskulptur und Zeichnung zurück. Nach seiner Ankunft in São Paulo schliesst Ferrari sich einer äusserst experimentellen Künstlergruppe an und führt in diesem Kontext zwei neue Ausdrucksformen ein: die Instrumente (Berimbaus), deren Ursprung in den Drahtskulpturen liegt, und die Heliografías. Veränderungen im Werk eines Künstlers haben oftmals mit technischen Neuerungen zu tun. So verwendet Ferrari in seinen Zeichnungen beispielsweise Letraset-Elemente, die bis dato dazu dienten, Menschen, Betten oder Pflanzen in Architekturplänen anzudeuten. Der Hang zur Geometrie, der sich in diesen Serien zeigt, kommt nicht von ungefähr. Der gelernte Ingenieur hatte früher seinem Vater geholfen, das Material für die Kirchen zu berechnen, die jener baute. Natürlich erklärt dieser Umstand nicht sein Werk, er liefert lediglich einen Schlüssel zum Verständnis der Wahl, die der Künstler für das trifft, was er kommunizieren möchte. 

León Ferrari, Passarela, 1981. Daros Latinamerica Collection, Zürich

Die Heliografías hingegen verdeutlichen in erster Linie den Einfluss, den die riesige Metropole São Paulo mit all ihren sich kreuzenden Autobahnen (Passarela, Laufsteg, 1981) und den kompakten Wohnsiedlungen (Bairro, Stadtviertel, 1980) auf ihn ausübt. Ferrari entwirft diese Bilder mit Tuschezeichnungen und Collagen oder mit Hilfe von Stempeln, die Autos, Männer, Frauen, Türen, Kloschüsseln und Betten abbilden. All jene Elemente und die Handlungen der Menschen, die gehen, sich bewegen oder sich setzen, spielen sich in überfüllten Räumen ab, in denen ein Leben unmöglich erscheint. Wie komplexe Panoptiken zeigen diese Pläne unmögliche, erdrückende Wege auf, die lediglich über den Humor erträglich werden, der in Situationen aufscheint, die nicht von der die Menschen umgebenden Architektur reguliert werden: in mit Betten und Pflanzen vollgestopften Räumen, labyrinthischen, antifunktionalen Wegen und ungewöhnlichen Zusammenkünften von Menschenmassen, die sich gemeinsam vor ein Bett setzen, als würde dieses ein Seminar halten (Bairro).

León Ferrari, Bairro, 1980. Daros Latinamerica Collection, Zürich

1979 beginnt Ferrari seine Zeichnungen mit Letraset-Elementen zu durchsetzen. Es entsteht eine umfangreiche Serie mit Menschen und Tieren, die in die Linien der abstrakten Zeichnung eingebettet sind. Anfang der 1980er-Jahre gibt er ihnen die Form von Plänen, die er mit der zum Kopieren von Architekturplänen angewandten Technik der Blaupause druckt, sie faltet und per Post an Freunde verschickt. So begründet er ein neues Format der Mail Art, mit Werken, deren Grösse sich von der des Umschlags bis zu der von Wandmalereien ausdehnt. In den Bildern mischt sich der Humor mit einem Gefühl von Unterdrückung. Auf diese Weise verdichten die Werke, auch ohne einen direkten Bezug zu der das städtische Leben in Argentinien beherrschenden Gewalt herzustellen, das Gefühl des Wahnsinns, des Eingesperrtseins und der Erstickung, das das öffentliche Leben in diesen Jahren bestimmt.

León Ferrari, Espectadores, 1981. Daros Latinamerica Collection, Zürich

1982 stellt Ferrari die Werke im Museum Carrillo Gil in Mexiko-Stadt aus. In einem Interview zu dem wahnsinnigen Charakter dieser Darstellungen und deren Bezug zu den Ereignissen in seinem Land befragt, betont er die in Argentinien gemachten Erfahrungen: „Ich habe das Bedürfnis, all das Schreckliche auszudrücken, das es dort gab und immer noch gibt, aber man kann nicht einfach sagen, dass man etwas machen will, und dann loslegen, denn dazu müsste man vorher erst etwas schaffen, das dieselbe Kraft hat wie dieser ganze Horror in Argentinien; und macht man es nicht in einer Sprache von derselben Kraft, dann lässt sich diese Realität auch nur schwer reflektieren. Ich kenne auf expressiver Ebene nichts, was die Kraft der Repression in Argentinien hätte.”1  1 León Ferrari, Interview mit Adriana Malvido, unomásuno, México D.F., 7. April 1982 (Übersetzung von Marianne Gareis) Deshalb verschmelzen in diesen Darstellungen Poesie, Lyrismus, Wahnsinn und Unterdrückung zu riesigen Wandplänen, die der Künstler in unendlichen Editionen drucken liess (bei seinen letzten Ausgaben lautet die Seriennummer x / ∞), um derart Städte-Wahrnehmungen aufzuzeigen und in der Welt zu verbreiten, in denen sich seine São Paulo-Erfahrungen und die Erinnerungen an Buenos Aires vermischen.

Andrea Giunta, 2017 (2010) Andrea Giunta ist Professorin für Lateinamerikanische Kunst an der Facultad de Filosofía y Letras, Universidad de Buenos Aires, Argentinien. Der Essay wurde erstmals veröffentlicht in: Al calor del pensamiento. Works from the Daros Latinamerica Collection, Katalog, Madrid, Fundación Banco Santander, 2010.

(Übersetzung von Marianne Gareis)