Marta Minujín. Zeichnungen
von
Andrea Giunta

Die Verbindung von Kunst und Leben ist der Grundgedanke, mit dem Marta Minujín sich seit den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart identifiziert.

Das Werk Marta Minujíns zeichnet sich seit den 1960er-Jahren durch seine unmittelbare Öffentlichkeitswirkung aus. Nach einer Ausbildung an den Kunsthochschulen von Buenos Aires reist die Künstlerin 1960 mit einem Stipendium nach Paris. Dort kommt sie schnell in Kontakt mit den dynamischsten Kreisen der Kunstszene. Sie entwirft grosse, mit dunklem Autolack bemalte Gebilde aus Karton. 1963 kommt sie erneut nach Paris und beginnt mit alten Matratzen zu arbeiten, die sie aus Pariser Krankenhäusern bezieht. Vor ihrer Rückkehr nach Buenos Aires stellt sie ihre ganzen Werke auf einer Brachfläche des Impasse Ronsin aus und lädt für Donnerstag, den 6. Juni 1963, um 16 Uhr eine Gruppe von Künstlern (Christo, Élie-Charles Flamand, Lourdes Castro, Mariano Hernandez und Paul-Armand Gette) ein, der Verbrennung ihrer Bilder und Matratzen beizuwohnen: „Wozu sollte ich meine Arbeiten aufbewahren? … damit sie auf den kulturellen Friedhöfen vergammeln? Die Ewigkeit interessierte mich nicht, ich wollte leben und Leben veranlassen.”1  1 Marta Minujín, “Destrucción de mis obras en el Impasse Ronsin-París” (Zerstörung meiner Werke auf dem Impasse Ronsin-Paris), Mimeo, Archiv Marta Minujín. (Übersetzung von Marianne Gareis)  Dies ist Marta Minujíns erstes Happening, ist das erste Mal, dass sie eine Arbeit in einem öffentlichen Raum aufbaut und andere Menschen (in diesem Fall die Künstler) an der Realisierung ihres Kunstwerks teilhaben lässt. Wie sie selbst herausstrich, war ihre Absicht „zu erschaffen, indem ich zerstöre, indem ich meine Identität verbrenne”.2  2 Idem.

Diese partizipative Perspektive war in all ihren Werken lebendig, beginnend mit ihren Matratzen Revuélquese y viva (Wälzen Sie sich und leben Sie) von 1964 am Instituto Torcuato Di Tella in Buenos Aires, die von einer Jury, zu der auch Pierre Restany und Clement Greenberg zählten, mit dem Premio Nacional (Nationalpreis) bedacht wurde, bis hin zu jener Performance, bei der sie aus einem Hubschrauber 500 lebende Hühner auf das Stadion Luis Tróccoli von Montevideo abwarf, oder La menesunda, ein Schlüsselwerk der 1960er-Jahre, das sie zusammen mit Rubén Santantonín realisierte und das zur Ikone der Popkultur von Buenos Aires wurde. Immer stärker bezog Marta Minujín kunstfernes Publikum ein, angefangen bei den Menschen, die stundenlang warteten, um La menesunda zu erleben, bis hin zu den Massen der Städter, die ihren Spektakeln beiwohnten.

1966 erhält sie das Guggenheim-Stipendim und reist nach New York. Wie bereits in Paris schliesst sie sich dort der künstlerischen Avantgarde an. Sie präsentiert partizipative Werke wie El batacazo (Der Sturz, Bianchini Gallery, 1966), eine Szenerie mit Rutsche, Fliegen und Kaninchen, die sie ein Jahr zuvor bereits am Instituto Torcuato Di Tella durchführte, oder das Minuphone (Howard Wise Gallery, 1967), eine Telefonzelle, in der verschiedene sinnlich wahrnehmbare Effekte erzeugt werden (Licht, Rauch, Wind etc.), je nachdem, welche Nummer man wählt.

Ende der 1970er-Jahre beginnt Marta Minujín mit emblematischen Bildern der Stadt Buenos Aires und mit universellen Ikonen zu arbeiten. 1978 präsentiert sie auf der Biennale von São Paulo den Obelisco acostado (Liegender Obelisk) und 1979, auf der Feria de las Naciones (Messe der Nationen) von Buenos Aires, den Obelisco de pan dulce (Obelisk aus Panettone). Seitdem beschäftigt sich Minujín mit der komplexen Beziehung zwischen Kunst, Publikum, Partizipation, Essen, Festen und Distribution. Ihre Werke lassen das Gefühl des Exzesses von heidnischen Festen wiederaufleben, und zwar über die Konstruktion und Dekonstruktion kultureller Ikonen. Beispiele hierfür sind der Torre de James Joyce de pan (James Joyce-Turm aus Brot, 1980), den sie vor der Dublin University aufbaut, der Carlos Gardel de fuego (Carlos Gardel aus Feuer, 1981) von Medellín, die Venus de queso (Venus aus Käse, 1981) von Buenos Aires, oder der Partenón de libros (Parthenon der Bücher, 1983), der auf der Avenida 9 de Julio von Buenos Aires, einer sehr geschichtsträchtigen Strasse errichtet wird – man denke nur an die dort abgehaltenen Massendemonstrationen, jene zum Beispiel, auf der Eva Perón in einem von Juan Domingo Perón angeführten Wahlkampf auf ihre Kandidatur als Vizepräsidentin verzichtete. 

 

Marta Minujín, Partenón de libros, Buenos Aires, 1983. © Archivos Marta Minujín

Der Partenón de libros ist ebenfalls nicht frei von politischen Konnotationen: Minujín baut ihn 1983 auf, im Jahr der Rückkehr zur Demokratie, nach der heftigsten Diktatur, die es in Argentinien je gab. Dieses riesige Gerüst voller Bücher, die später an das Publikum verteilt wurden, repräsentierte die Wiederherstellung des Buches und der Kultur, die in den Jahren zuvor nur Verbote, Verbrennungen und Zerstörungen erlebt hatten. 

In all diesen partizipativen Arbeiten geht es darum, städtische oder kulturelle Mythen wiederzubeleben. Einige davon sind fest in der städtischen Kultur von Buenos Aires verwurzelt (z.B. der Obelisk oder Carlos Gardel), andere sind eher internationaler Art (der Parthenon oder die Venus). Bei all diesen Erfahrungen beabsichtigt Minujín eine Aneignung des Mythos über die kollektive Partizipation.

Marta Minujín, Partenón de libros, 1983. Daros Latinamerica Collection, Zürich

Die Zeichnungen der Daros Latinamerica Collection bilden ein Verzeichnis und ein Album mit Notizen zu einer Reihe dieser Projekte. Partenón de libros (Parthenon der Bücher, 1983) stellt den Augenblick der Errichtung sowie den Aufriss des Konstrukts dar, das später die Bücher beherbergen soll und um das sich das Publikum während der Ausstellungszeit versammelt. 

Marta Minujín, Mitos populares desmitificándose , 1986. Daros Latinamerica Collection, Zürich

Mitos populares desmitificándose (Populäre Mythen, die entmythifiziert werden, 1986) greift Minujíns sämtliche öffentliche Projekte in Form eines Themenparks auf. Für den Betrachter erschliesst sich die Szene von einem erhöhten Punkt aus, wobei die „Volksmythen“ über den Raum verteilt sind, in dem sich das Publikum bewegt, das sich nach Wahl an den Themen beteiligen kann.

Marta Minujín, La desmitificación y remitificación de los mitos populares, 1990. Daros Latinamerica Collection, Zürich

La desmitificación y remitificación de los mitos populares (Die Entmythifzierung und Re-Mythifizierung der Volksmythen, 1990) bildet jedes Projekt in einer eingekastelten Zeichnung ab, vergleichbar einem Comic oder einer Kurzbeschreibung zu den jeweiligen Projekten, bei denen bedeutende Mythen zerstört werden bzw. bei dem diese Mythen über die Publikumsbeteiligung in Leben umgewandelt werden. Die Verbindung von Kunst und Leben ist der Grundgedanke, mit dem Marta Minujín sich seit den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart identifiziert.

Andrea Giunta, 2017 (2010)  Andrea Giunta ist Professorin für Lateinamerikanische Kunst an der Facultad de Filosofía y Letras, Universidad de Buenos Aires, Argentinien. Der Essay wurde erstmals veröffentlicht in: Al calor del pensamiento. Works from the Daros Latinamerica Collection, Katalog, Madrid, Fundación Banco Santander, 2010.

(Übersetzung von Marianne Gareis)